Dienstag, 2. Februar 2021

 Unbarmherzigkeit


 

Wir haben einen Brief geschrieben. Einen offenen Brief an die Verantwortlichen der großen Kirchen in Deutschland:

Menschen verkommen zu lassen ist keine Politik, sondern Politikversagen.

 

Der folgende "Offene Brief" löste schon im Vorfeld viele Diskussionen aus. Das ist gut so. Damit wir aber nicht jedes mal wieder bei Null anfangen zu diskutieren, erlauben wir als Initiatorinnen uns folgende Vorbemerkung:

 

Dieser Brief ist plakativ und will laut sein. Wir ignorieren durch ihn weder die Stellungnahmen der Kirchen zur Lage geflüchteter Menschen noch kirchliches konkretes Engagement in Seenotrettung oder Flüchtlingshilfe. 

 

Der Brief schließt in seiner „Basalität“ weder die Forderung nach faireren Handelsabkommen, noch die nach starker Beschränkung des Waffenhandels oder der Beseitigung anderer Fluchtursachen aus.

 

Der Brief möchte uns aber alle zum Laut-Sein auffordern. Denn wir sind mehr. Und das müssen wir zeigen.

 

Wir fordern keine kopflosen Aktionen, sondern befürworten selbstverständlich kluges, geplantes, hör- und sichtbares Handeln und Verhandeln, verbunden aber mit einer lauten Symbolik.

 

 

 

An die Bischöfe der Deutschen Bischofskonferenz, z. Hd. Herrn Dr. Georg Bätzing

An die Bischöf:innen der Evangelischen Kirche in Deutschland,

z. Hd. Herrn Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm

- Offener Brief -

 

                                                                                                         Münster, im Januar 2021

 

Sehr geehrte Damen und Herren!

 

Als Christ:innen und überzeugte Europäer:innen wenden wir uns heute an Sie, die Vertreter:innen der beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland.

 

Es wird viel geredet über die Werte der europäischen Union. Wir alle wissen, dass diese Werte ihren Ursprung nicht zuletzt in der Bibel, in den Evangelien, in der Botschaft des Jesus von Nazareth haben. In Ihm scheint Gott auf als unbedingt und tätig Liebender.

An den Grenzen Europas aber wird die Würde geflüchteter Menschen mit Füßen getreten. Das widerspricht der Frohen Botschaft, das widerspricht  allem, wofür wir als Christ:innen und Europäer:innen stehen.

Menschen leiden, für uns alle sichtbar, in Lagern, die diesen Namen oft nicht einmal verdienen. Sie warten auf tätige Liebe.

 

Wir schlagen Ihnen vor: Machen Sie sich auf den Weg: Chartern Sie Reisebusse in Richtung Bosnien, Serbien, Griechenland. Dorthin, wo das Elend zum Himmel schreit.

Warten Sie nicht auf die Erlaubnis der europäischen Regierungen:

Dieser Treck wird die für alle sichtbare Forderung an die Regierenden Europas sein, die Menschen mitnehmen zu dürfen: Sie endlich zu bergen an einem sicheren Ort, den unsere Christlichen Kirchen ihnen bieten.

2015 haben die Kirchen in Deutschland und Europa gezeigt, dass sie Herz und Infrastruktur besitzen, Menschen aufzunehmen und zu integrieren.

Tun Sie auch jetzt das Not-wendige. Wagen Sie den ersten Schritt!

 

Wir Christen folgen seit 2000 Jahren einem Stern. Heute steht er dort, an den Rändern unserer Union, über den Zelten der Heimatlosen, die in Schlamm und Dreck versinken.

Die Christ:innen Europas müssen endlich mehr als ein Zeichen setzen. Sich auf den Weg zu machen ist  mehr.

Wir sind überzeugt: Es werden sich viele anschließen.

 

 

 

Soweit der Brief und die Vorbemerkung. Viele haben unterschrieben, bekannte und unbekannte Persönlichkeiten.

Die Resonanz ist spärlich aber zu über 90% zustimmend.

 

Das Domradio berichtete (klick)

 

Und bat um ein Interview (klick)

 

 

Es gibt auch die, die sich empören, die uns schreiben, dass "die" es nicht verdienen, dass man ihnen hilft. Manche versteigen sich zu der Behauptung, nur gewisse Religions- oder Staatsangehörige verdienten Rettung. Andere fragen, warum wir nicht die Obdachlosen im eigenen Land unterstützen....

 

Abgesehen davon, dass ein Unheil das andere weder beseitigt noch relativiert, macht machen mich solche Reaktionen ratlos. Wir haben , zugegeben mit Pathos und plakativ, einen Brandbrief geschrieben, weil Menschen einfach dem Verderben anheimgegeben werden. Es wird 1000000 Lösungen geben, die besser sind, als das, was jetzt passiert. Dass nichts passiert ist ein Skandal. Denn wir verlieren unsere Würde, wenn wir die Würde der anderen für antastbar erkären.

 

Darum dieser Text über die neue UNBARMHERZIGKEIT:

 


Religiös oder ideologisch begründete Unbarmherzigkeit zieht sich durch die Unheilsgeschichten der Menschheit. Mit ihr einher ging und geht immer die Sippenhaft.

 

Fordern Menschen eine humane Unterbringung der Geflüchteten, die gestrandet sind in Nässe und Kälte an den östlichen Rändern Europas, so wird folgendermaßen dagegen argumentiert: Das sind ja fast nur Männer! „Die“ lügen alle. Das sind sowieso nur die, die genug Geld haben für die Flucht. Die vergewaltigen Frauen. Wenn die nicht leiden, kommen immer mehr. Und so weiter und so weiter.

 

Als Beweis solch abenteuerlicher Behauptungen wird über Einzelfälle von Flüchtlings- Bösewichten in Aufnahmeländern berichtet  und es werden Erfahrungen angeführt, die man im Herkunftland der Geflüchteten einst machte. Man weiß bescheid, wie "die" ticken. Alles Kinder reicher Leute.Man kennt welche, die kennen welche...

 

 

 Selbst wenn man diesen schrägen Argumentationen folgt: Wo bleibt das Minimum an mitmenschlicher Solidarität, sich lauthals dafür einzusetzen, den Menschen dort, wo sie jetzt sind ,  menschenwürdige Verhältnisse zu schaffen?

 

Und zweitens: Selbst wenn man solcher Argumentation folgte- was ist denn mit den x % derer, die keine Bösewichte sind, die schlicht vor Verfolgung, Elend und Krieg flohen, die vielleicht nichts anderes wollen, als mit ihrer Familien, die bereits in Europa leben, zusammen zu sein? Was ist mit den Kindern, mit den Frauen?

 

Hier wird für Sippenhaft argumentiert.

 

In Europa großgewordene Menschen werden auch zu Mördern, Dieben, Extremisten, Vergewaltigern oder Betrügern, wie überall auf der Welt. Warum sollten Geflüchtete besser oder schlechter sein, als wir, denen UNVERDIENT ein Schengenpass,  qua Geburt oder Einbürgerung, zufiel? Uns allen: ob dumm, klug, krank, gesund, gemein, fröhlich, egoistisch, empathisch , narzisstisch, links, rechts, grün, blau, gelb, rosa oder bunt.  Selbst wenn wir kriminell werden, werden wir weder gefoltert, noch müssen wir in Zelten in der Kälte und Nässe schlafen. Wir behalten unsere Grundrechte und können sie jederzeit einklagen.

 

 

Das gestehen wir den Menschen in den Lagern an den Ostgrenzen Europas aber nicht zu. Für sie gilt wieder, was wir eigentlich hinter uns zu haben behaupten mit unseren tollen humanistischen Werten: Wir nehmen sie in Sippenhaft. Alle.

Das gibt aber unser Rechtssystem nicht her. Gott sei Dank. Sippenhaft ist eine Bestrafung, die voraufklärerisch ist.

Schengenraum- Bösewichte sind vor Sippenhaft aufgrund eben des Rechts geschützt, das unsere Argumentierer meinen, es sei in Ordnung, es gegenüber Geflüchteten nicht anzuwenden.

Es scheint , dass viele Zeitgenossen sich einer, (für überwunden geglaubten, )in die Nation hinein verlängerten Egozentrierung mental wieder annähern.

Ob die „Gotteskrieger“ des „IS“ oder des „Boko Haram“ Frauen und Kinder versklaven, ob afrikanische Paramilitärs einen christlichen Gottesstaat errichten wollen und zu diesem Ziel  Kinder rauben und sie zu Mördern machen, ob die Leader der nationalen Identitätsbewegungen den Menschen wieder einhämmern, dass es auf die anderen, die Fremden, die Fernen nicht ankommt, sondern nur auf das EIGENE, auf das „great again“-

ob mit dem Mäntelchen der Vernunft oder des religiösen Eifers, mit Geschichtsvergessenheit oder der wiederentdeckten nationalen „Identität“ argumentiert wird- :

 

Ein Gespenst geht um. Es ist wiederauferstanden, es war nie tot. Es grinst und zeigt mit ausgestreckten Fingern auf den ersten Satz der Menschenrechtserklärung, der lautet:

Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.

 

Das Gespenst aber nimmt den Stift in die Hand und schreibt ein Wort vor diesen ersten Artikel der Menschenrechtserklärung:  NICHT

 

 

 

 


 

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